Die Nacht verbrachte ich dann doch etwas weiter von dieser Stelle entfernt am Waldrand. Jedenfalls einen Teil der Nacht, denn noch vor dem Tagesanbruch wurde ich von einsetzendem Regen geweckt, so daß ich mich ins Auto setzte und in die nahegelegene Stadt Bingen fuhr. Als ich dort am Vormittag in der dortigen Fußgängerzone mit dem Spielen anfing kam ein weitere Straßenmusikant mit einer Gitarre zu mir. Er grüßte freundlich und fragte nach dem „Geschäft“. Er war gerade auf dem Wege zum Landratsamt eine Genehmigung zum Spielen auf öffentlichem Straßenland in dieser Stadt zu erwerben. Ich zuckte etwas zusammen. Ich hatte ja alle Berliner Papiere, aber um die jeweils örtlichen hatte ich mich bisher nicht gekümmert. Und tatsächlich: nur kurze Zeit später rutschte mir fast das Herz in die Hose. Langsam schlenderten zwei Politessen auf mich zu, beobachteten mich und den Leierkasten. Zum Weglaufen war es zu spät zumal das mit der dazu unhandlichen Drehorgel auf dem Orgelwagen so gut wie aussichtslos war. Ich kurbelte einfach unverdrossen weiter. Nach Beendigung eines Liedes meinte eine der Damen: „Endlich ist hier auch mal was los!“ Mir plumpste ein großer Stein vom Herzen. Keine Spur von Kontrolle! Sie fragten nur sehr interessiert, ob ich den wirklich aus Berlin käme wie es auf meinem Frontbild steht und schauten sich mit großem Interesse die filigrane Walzenmechanik der Orgel an. Nach einiger Zeit wünschten sie mir „einen guten Tag und ein gutes Geschäft“ und das war an diesem Vormittag dann auch wirklich gut. Am folgenden Nachmittag spielte ich dann in Mainz. Innenstadt – Fußgängerzone, versteht sich! Oh je, nach etwa vielleicht einer Stunde Spielzeit schlenderte wiederum ein Ordnungshüter zielstrebig auf mich zu: „Tagchen, Herr Drehorgelmann,“ sprach er mich an, „einige Anwohner haben angerufen, sie kennen nun ihre Lieder und bitten darum, daß sie ein Stückchen weiterziehen...“ „Na, wenn’s nichts weiter ist!“ dachte ich, und kam sehr erleichtert dieser Bitte nach. Später traf ich noch einen Drehorgelkollegen, allerdings ohne Orgel, mit dem ich noch angeregt fachsimpelte. Als ich letztendlich Kasse machte, stellte ich fest, daß es sich gut gelohnt hatte. Und so sah ich mir noch den Mainzer Dom sowie ein wenig weiteres aus der Geschichte der Stadt an. Da dieses mein letzter geplanter Spieltag gewesen war und ich ausgeruht die Rückfahrt nach Berlin antreten wollte, leistete ich mir für diese letzte Nacht nochmals ein Hotelzimmer. Ja, und was denke ich heute, nach einigen Jahren Abstand von dieser Reise? „Schön war’s! Spaß hat’s gemacht!“ ist meine einhellige Antwort. Reichtümer habe ich nicht zusammengespielt. Auch in den späteren Jahren nicht. Aber so verbissen habe ich das auch nie gesehen. Der Spaß war immer im Vordergrund und für das Essen hat es allemal gereicht. Die Übernachtungen im Freien waren immer ein besonderes Erlebnis. Ich habe Menschen kennengelernt, denen ich sonst nie so intensiv begegnet wäre, die ich voraussichtlich nie wiedertreffen werde und von denen jeder auf seine Weise interessant war. Und ich habe einen kleinen Teil Deutschlands aus einem Blickwinkel gesehen, den ich ohne meine Drehorgel sonst nicht gehabt hätte. Sicher, fünf Tage sind eine zu kurze Zeit, um sich ein umfassendes Bild von einer sonst nicht einsehbaren Lebensbereich machen zu können, aber für einen kleinen Einblick haben sie doch gereicht. Ob ich nochmals zu einem solchen Unternehmen aufbrechen würde? Aber sicher!!! Und ich habe es seitdem mehrmals gemacht. Aber jedes Mal hat die Sache einen kleinen Haken: meine liebe Frau sorgt sich dann jeweils sehr um mich. Ich sollte doch wenigstens im Hotel übernachten. Aber dann wäre ein wesentlicher Teil des Abendheuers ausgelassen.
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